Donnerstag, 24. Dezember 2020
[killige & unangenehme Weihnachten] Lotte R. Wöss
Heiligabend. ‚Stille Nacht‘, schön gesungen von den Wiener Sängerknaben. Durch die offene Tür sehe ich den zerbrochenen Weihnachtsengel auf dem Boden vor dem Weihnachtsbaum. Es war mein Lieblingsengel. „Bist du endlich fertig?“ Karl wird ungeduldig. Das Badewasser muss genau die richtige Temperatur haben. Zitternd greife ich nach dem Thermometer. Das Ding ist glitschig von seinem Lieblingsbadeöl. Das flauschige Handtuch liegt bereit. Karls massige Gestalt ist in der Tür. „Nach dem furchtbaren Essen ist hoffentlich mein Bad in Ordnung.“ Ich nicke, mein Hals ist wie zugeschnürt. Er hebt ein Bein über den Wannenrand. „Festessen. Dass ich nicht lache. Der trockene Kuchen zum Abschluss, das war der Gipfel.“ Er setzt sich, öffnet den Mund, doch es kommt kein Ton heraus. Sein Gesicht läuft rot an, er hustet, röchelt und greift mit den Fingern nach dem Wannenrand. Mit seinen Füßen stemmt er sich ab, möchte heraus. Doch er rutscht ab. Ich habe doch nicht zu viel Öl genommen? Seine Finger tasten nach mir, doch ich ziehe rasch die Hand weg. Das Röhren, das aus seiner Kehle kommt, erinnert an einen brunftigen Hirsch. Mit beiden Händen greift er sich an die Kehle, gleitet ins Wasser, strampelt.
Ich sehe zu. Er hätte von dem zu trockenen Kuchen nicht drei Stück essen sollen. Auch fein gerieben verträgt er keine Haselnüsse.
‚Stille Nacht‘, jetzt passt es.
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