Dienstag, 21. Juli 2020

[Schnipseltime] Das Pegasosgen con Eve Grass


Aus Band 1 „Marias Geheimnis“:

Zwei Tierärzte treffen in Spanien aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein können. Der eine davon, ein moderner Pferdefacharzt mit Namen Hans Schächter, hat noch nie etwas von fliegenden Pferden gehört. Als er dem älteren Kollegen Abdai bin Nuhr aus Marokko zuhört, fühlt er sich wie ein Neuling der Tiermedizin:

Mit versteinerter Miene beobachtete Abdai bin Nuhr das Pferd aus der Entfernung. »Ein Geschöpf des Himmels und der Sonne, zweifelsfrei«, murmelte er plötzlich in arabischer Sprache, und wieder richteten sich alle Augen auf den älteren Mann mit den schneeweißen Kleidern. »Entschuldigen Sie«, setzte er in klarem Englisch fort. »Ich habe lediglich festgestellt, dass es sich tatsächlich um ein fliegendes Pferd handelt.«

Hans Schächter fand seine Stimme als Erster wieder. Er grinste leicht, als er, ebenfalls auf Englisch, antwortete: »Das sehen Sie aus dieser Entfernung, Herr Kollege? Mit Verlaub, aber hier im Stall würde ich aus einer Distanz von etwa vier Metern nur ein Pferd erkennen.«

Hannes Bauer wirkte überrascht über die klaren Worte seines Freundes. Er hätte den marokkanischen Veterinär vermutlich mit Samthandschuhen angefasst. Dass Abdai bin Nuhr aber keine Kuscheleinheiten benötigte, wurde den Anwesenden mit dessen Antwort ziemlich schnell klar.

»Sie verhalten sich nicht wie Equiden, auch wenn dieses Exemplar sehr domestiziert erscheint«, belehrte er unbeirrt seinen deutschen Kollegen. »Beachten Sie doch mal ihre Nüstern, ihre Nasenöffnungen und ihre Trachea.« Mit einem Blick auf Hannes und Rike setzte er hinzu: »Verzeihen Sie, ich meinte: Die Luftröhre dieses Tieres ist wesentlich größer ausgebildet als die eines normalen Pferdes.« Nun lächelte er und wirkte dabei ein wenig überheblich. »Sie hat einen tiefen Atemzug getan, als sie an der Mohrrübe geschnuppert hat. Das würde ein Hauspferd in dieser Form nicht tun. Wesen des Himmels und der Sonne sind auf ihren Geruchssinn angewiesen. In einer Höhe von tausend Metern über dem Boden können sie noch Nahrung wittern, aber auch Gefahren, wie etwa Waldbrände, erkennen.« Abdai deutete auf das samtweiche Maul der Stute. »Es gibt da übrigens noch einen Unterschied zum Hauspferd. Sie fressen tierisches Eiweiß.

Hans Schächter bemerkte nicht, dass ihm der Mund offen stand. Er starrte Abdai bin Nuhr an. »Tausend Meter über dem Boden?«, wiederholte er leise. »Also gehören Sie auch zu der Sorte Mensch, die davon überzeugt sind, dass es fliegende Pferde gibt?«

Abdai bin Nuhr blickte kurz zu Boden, dann näherte er sich Rosinante ein paar Schritte. »Es tut mir leid, wenn ich Sie mit meinen Worten verwirrt habe. Ich bin davon ausgegangen, dass Sie, ebenso wie ich, ein Fachmann sind.«

Dieser Pfeil hatte voll ins Schwarze getroffen. Hans Schächter schluckte hörbar, und einen Moment flackerte sein Blick unschlüssig.

Aber bin Nuhr war noch nicht fertig mit ihm. »Herr Villanueva berichtete mir, Sie wollen Nachzucht aus der Stute. Daher sollten Sie sich ausgiebig mit der Materie befassen.« Der Marokkaner trat nah an das Pferd heran und ließ seine langen, schlanken Finger über die Schulternarbe gleiten. »Sie wurde vermutlich von einem arabischen Arzt operiert. Es gibt nur noch wenige, die diesen Eingriff beherrschen.«

Hans Schächter rieb sich die Augen, als wolle er eine Erscheinung vertreiben. »Hören Sie, Herr bin Nuhr, ich habe genau wie Sie Tiermedizin studiert. Aber ich habe in keinem Lehrbuch etwas über eine derartige Rasse gelesen.«

Liebevoll betrachtete der Tierarzt aus Marokko die alte Stute. Dann kniete er sich in die Einstreu aus Sägemehl und tastete Rosinantes rechtes Bein ab. Seine Hände ruhten einige Sekunden lang am Vorderhuf. »Er ist nicht zu warm«, stellte er fachmännisch fest. »Das ist ein gutes Zeichen. Der Bruch wird vermutlich problemlos verheilen.« Als er die erstaunten Blicke von Rike und Hannes bemerkte, setzte er rasch hinzu: »Herr Villanueva hat mir von dem Hufbeinbruch erzählt. Das war eine schlimme Sache. Die vorderen Gliedmaßen der fliegenden Pferde sind etwas schwächer ausgebildet als die herkömmlicher Pferde.« Dann glitt sein Blick wieder zu Hans Schächter. Offensichtlich genoss er es, den deutschen Kollegen zu belehren. »Ganz im Gegensatz zu den hinteren Gliedmaßen. Diese können extreme Erschütterungen abfedern. Sie benutzen die Hinterbeine, um den Landestoß abzufangen.«


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