Aus Band 1 „Marias
Geheimnis“:
Zwei Tierärzte
treffen in Spanien aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein können. Der
eine davon, ein moderner Pferdefacharzt mit Namen Hans Schächter, hat noch nie
etwas von fliegenden Pferden gehört. Als er dem älteren Kollegen Abdai bin Nuhr
aus Marokko zuhört, fühlt er sich wie ein Neuling der Tiermedizin:
Mit versteinerter Miene beobachtete Abdai bin Nuhr das Pferd aus der
Entfernung. »Ein Geschöpf des Himmels und der Sonne, zweifelsfrei«, murmelte er
plötzlich in arabischer Sprache, und wieder richteten sich alle Augen auf den
älteren Mann mit den schneeweißen Kleidern. »Entschuldigen Sie«, setzte er in
klarem Englisch fort. »Ich habe lediglich festgestellt, dass es sich
tatsächlich um ein fliegendes Pferd handelt.«
Hans Schächter fand seine Stimme als Erster wieder. Er grinste leicht,
als er, ebenfalls auf Englisch, antwortete: »Das sehen Sie aus dieser
Entfernung, Herr Kollege? Mit Verlaub, aber hier im Stall würde ich aus einer
Distanz von etwa vier Metern nur ein Pferd erkennen.«
Hannes Bauer wirkte überrascht über die klaren Worte seines Freundes. Er
hätte den marokkanischen Veterinär vermutlich mit Samthandschuhen angefasst.
Dass Abdai bin Nuhr aber keine Kuscheleinheiten benötigte, wurde den Anwesenden
mit dessen Antwort ziemlich schnell klar.
»Sie verhalten sich nicht wie Equiden, auch wenn dieses Exemplar sehr
domestiziert erscheint«, belehrte er unbeirrt seinen deutschen Kollegen.
»Beachten Sie doch mal ihre Nüstern, ihre Nasenöffnungen und ihre Trachea.« Mit
einem Blick auf Hannes und Rike setzte er hinzu: »Verzeihen Sie, ich meinte:
Die Luftröhre dieses Tieres ist wesentlich größer ausgebildet als die eines
normalen Pferdes.« Nun lächelte er und wirkte dabei ein wenig überheblich. »Sie
hat einen tiefen Atemzug getan, als sie an der Mohrrübe geschnuppert hat. Das
würde ein Hauspferd in dieser Form nicht tun. Wesen des Himmels und der Sonne
sind auf ihren Geruchssinn angewiesen. In einer Höhe von tausend Metern über
dem Boden können sie noch Nahrung wittern, aber auch Gefahren, wie etwa
Waldbrände, erkennen.« Abdai deutete auf das samtweiche Maul der Stute. »Es
gibt da übrigens noch einen Unterschied zum Hauspferd. Sie fressen tierisches
Eiweiß.
Hans Schächter bemerkte nicht, dass ihm der Mund offen stand. Er starrte
Abdai bin Nuhr an. »Tausend Meter über dem Boden?«, wiederholte er leise. »Also
gehören Sie auch zu der Sorte Mensch, die davon überzeugt sind, dass es
fliegende Pferde gibt?«
Abdai bin Nuhr blickte kurz zu Boden, dann näherte er sich Rosinante ein
paar Schritte. »Es tut mir leid, wenn ich Sie mit meinen Worten verwirrt habe.
Ich bin davon ausgegangen, dass Sie, ebenso wie ich, ein Fachmann sind.«
Dieser Pfeil hatte voll ins Schwarze getroffen. Hans Schächter schluckte
hörbar, und einen Moment flackerte sein Blick unschlüssig.
Aber bin Nuhr war noch nicht fertig mit ihm. »Herr Villanueva berichtete
mir, Sie wollen Nachzucht aus der Stute. Daher sollten Sie sich ausgiebig mit
der Materie befassen.« Der Marokkaner trat nah an das Pferd heran und ließ
seine langen, schlanken Finger über die Schulternarbe gleiten. »Sie wurde
vermutlich von einem arabischen Arzt operiert. Es gibt nur noch wenige, die
diesen Eingriff beherrschen.«
Hans Schächter rieb sich die Augen, als wolle er eine Erscheinung
vertreiben. »Hören Sie, Herr bin Nuhr, ich habe genau wie Sie Tiermedizin
studiert. Aber ich habe in keinem Lehrbuch etwas über eine derartige Rasse
gelesen.«
Liebevoll betrachtete der Tierarzt aus Marokko die alte Stute. Dann
kniete er sich in die Einstreu aus Sägemehl und tastete Rosinantes rechtes Bein
ab. Seine Hände ruhten einige Sekunden lang am Vorderhuf. »Er ist nicht zu
warm«, stellte er fachmännisch fest. »Das ist ein gutes Zeichen. Der Bruch wird
vermutlich problemlos verheilen.« Als er die erstaunten Blicke von Rike und
Hannes bemerkte, setzte er rasch hinzu: »Herr Villanueva hat mir von dem
Hufbeinbruch erzählt. Das war eine schlimme Sache. Die vorderen Gliedmaßen der
fliegenden Pferde sind etwas schwächer ausgebildet als die herkömmlicher
Pferde.« Dann glitt sein Blick wieder zu Hans Schächter. Offensichtlich genoss
er es, den deutschen Kollegen zu belehren. »Ganz im Gegensatz zu den hinteren
Gliedmaßen. Diese können extreme Erschütterungen abfedern. Sie benutzen die
Hinterbeine, um den Landestoß abzufangen.«
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