... Merkwürdig, dachte sie, war dort am Baum etwas hängen
geblieben? Je näher sie kam, umso größer wurde es und darüber leuchtete etwas
Helles. Sie war jetzt so nah, dass sie es erkennen konnte. Es waren Haare,
ungewöhnlich blondes Haar. Die Haare bewegten sich und plötzlich sah sie in das
Gesicht eines Jungen. Seine tiefblauen Augen hypnotisierten Agathe förmlich.
Im gleichen Augenblick
erinnerte sie sich an den alten Helmar und seine Geschichten von den Menschen
mit feuerrotem Haar. Alles Quatsch! Der Junge hatte blonde Haare und keine
roten.
Agathe musterte ihn
von oben bis unten. Der Aufzug des Jungen war eigenartig, das musste sie
zugeben. Er trug ein viel zu großes Leinenhemd, in dem er seine breiten
Schultern nicht verstecken konnte. Die Ärmel waren unordentlich aufgekrempelt
und die ersten Knöpfe standen offen. Sie konnte seine Brust sehen. Um den Hals
hing ein Beutel an einem schwarzen Lederband. Die Hose erinnerte Agathe an eine
Pluderhose. Neben seinen Füßen standen Sandalen mit dünnen Lederriemen.
In diesem Aufzug ging
man doch nicht in die Pilze oder im Wald spazieren. Einen Korb oder ein anderes
Behältnis sah Agathe auch nicht.
Wie alt mochte er wohl
sein? Über seinen Lippen schimmerte ein blonder Flaum. Er könnte in Björns
Alter sein, rätselte sie im Stillen.
„Kann ich dir helfen?“,
fragte sie.
Die saphirblauen Augen
starrten sie immer noch an und der Junge öffnete den Mund, aber es kam kein Ton
heraus.
„Mein Bruder hat
bestimmt sein Handy mit, da können wir jemanden für dich anrufen.“
Der Junge presste ein
mühsames „Nein!“ heraus.
„Kann ich dir wirklich
nicht helfen?“, fragte Agathe noch einmal eindringlich entgegen ihrer eigenen
Schüchternheit.
„Wenn du Salbe von der
Pflandele dabei hast, dann vielleicht.“ Sein Gesicht verzog sich schmerzhaft.
„Wozu brauchst du
die?“, fragte Agathe, ohne zu wissen, um was für eine Salbe es sich handelt.
„Ich hab mir den Fuß
verstaucht. So kann ich nicht weiter gehen. Jedenfalls nicht sehr lange.“
Mit einer kreisenden
Handbewegung massierte er seinen Knöchel. Dieser begann sich zu verfärben und
Agathe schien es, dass er etwas angeschwollen war. Bei den Schuhen und dem
unebenen Waldboden wunderte es Agathe nicht, dass er umgeknickt war.
„Salben sind nicht
deine Stärke, oder?“, fragte er mit einem leichten Unterton.
„Die Fadelesalbe kenn ich nicht, aber wenn du
willst, dann bringe ich dich zum Arzt."
Der Junge verdrehte
die Augen und stöhnte laut auf. Er hörte auf zu massieren. „Das heißt nicht
Fadelesalbe, sondern Pflandelesalbe.
Pflanze des Lebens, um genau zu sein.“
„Auch die kenne ich
nicht. … Du willst nicht, dass ich dir helfe, oder?“ Wie konnte sie nur
glauben, dass ein Junge, der auch noch so verdammt gut aussah, in seiner Not
ihre Hilfe annehmen würde?
„Es ist wirklich
besser, wenn du gehst“, quetschte er zwischen seinen Zähnen hervor.
Verlegen fingerte sie
an dem Pilzkorb, nur um ihn nicht anschauen zu müssen.
„Verstehe!“, sagte sie
kurz.
In der Ferne hörte
Agathe, wie ihr Namen gerufen wurde.
„Das ist meine
Familie. Sie suchen mich. Ich muss ihnen antworten, sonst gibt es Ärger.“
Der Junge griff nach
seinen Schuhen, drehte sich abrupt um und humpelte in Richtung Schlucht.
„Warte, da geht’s zur
Schlucht“, rief Agathe.
„Ich weiß! Vergiss das
alles hier einfach!“
„Wieso? Wer bist du?“
Der Junge blieb stehen
und drehte sich um. Ihre Blicke verschmolzen für einen winzigen Moment. Über
seine Lippen huschte ein Lächeln.
„Ich bin Ral. Mehr
musst du nicht wissen. Geh zu deiner Familie und verschweige einfach, dass du
mich gesehen hast, ja?“, sagte er sanfter.
Mit einem Auge
zwinkerte er. Agathe merkte, wie ihre Wangen heiß wurden.
„Sehen wir uns
wieder?“, fragte sie hastig und im selben Moment sah sie, wie er sich eine
kleine Fliege aus dem Auge wischte. Er hatte ihr gar nicht zugezwinkert. Es war
bloß eine blöde Fliege. ...
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