[Schnipseltime] Kannst du mich lieben? von Anja Langrock
Als sie begann sich im Takt der Musik zu wiegen, schloss sie die Augen und fühlte sich so frei wie schon lange nicht mehr. Gerade kam sie sich wie ein Vogel vor, der jederzeit losfliegen konnte, wenn ihm der Sinn danach stand. Ort und Zeit waren bedeutungslos, nur sie hatte die Macht über ihre Handlungen. Wie lange hatte sie nicht mehr getanzt? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Dieser Gedanke machte sie kurzzeitig traurig, dann verdrängte sie ihn, wie so vieles in ihrem Leben. Nachdem sie sich eine Weile von ihren Emotionen hatte treiben lassen, machte sie den Fehler die Augen zu öffnen und somit wieder auf dem Seegrundstück anzukommen. Der freie Vogel war ohne sie weggeflogen und ließ sie zurechtgestutzt auf dem harten Boden der Realität zurück. Verdammt, wie lange stand er schon dort, kaum zwei Schritte von ihr entfernt, am Rande der provisorischen Tanzfläche und beobachtete sie? Sie kam sich gerade nackt und hilflos ausgeliefert vor, als hätte sie gerade mit ihrer Tanzeinlage einen emotionalen Striptease hingelegt. Wieder legte sich sein Blick wie ein Fluch auf sie und zwang ihre Beine stehen zu bleiben. Wie festgewurzelt stand sie auf der Stelle und ihre Arme baumelten hilflos, wie Fremdkörper an ihren Schultern. Wieder übernahm Leo die Initiative, trat auf sie zu, nahm ihre Hand und zog sie weg von den anderen Tänzern. Der Stromschlag, der ihr den Atem raubte, als sich ihre Hände berührten, führte dazu, dass sie aus reinem Reflex die Hand wegzog, sobald er stehenblieb. Sie kreuzte die Hände hinter ihrem Rücken, damit er nicht noch einmal auf die Idee käme, sie anzufassen. Stumm sah sie ihn an und wartete auf eine Reaktion. Leo raufte sich die Haare, was Mila umgehend dahinschmelzen ließ. Er sah süß aus, als er sie verlegen musterte. Sein schwarzes Haar trug er etwas zu lang und es fiel ihm umgehend wieder in die Stirn, nachdem er es losließ. Anscheinend fühlte er sich gerade unwohl in seiner Haut. Da konnte er mal am eigenen Leib verspüren, wie es ihr tagtäglich erging. Als er noch einen Schritt näherkam, zuckte es in ihren Beinen, krampfhaft hielt sie ihre Füße an Ort und Stelle, was sie alle Kraft kostete. Ihren Blick hielt sie auf ihn gerichtet, vermied es aber, ihm in die Augen zu sehen. Dann wäre sie rettungslos verloren und würde unrühmlich untergehen. Trotz ihres desolaten Zustandes nahm sie eine kleine Narbe auf seiner Stirn wahr, die ihr zuvor noch nicht aufgefallen war. Sie musste sich zurückhalten, um nicht die Hand auszustrecken und darüberzufahren. Wie viel hatte sie eigentlich getrunken, um derart die Kontrolle über ihre Handlungen zu verlieren?
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