Samstag, 16. Oktober 2021

[Schnipseltime] Wunschmagie - Labyrinth des Herzens von Kiara Roth

 


Mit vorsichtigen Schritten schlich Alex näher an Jess heran. Ich hielt den Atem an. Nichts passierte. Er streckte die Hand nach einer Wurzel über ihrem Schlüsselbein aus und strich darüber, als wollte er sie mit den Händen inspizieren. Unmittelbar danach zog er mit der anderen Hand sein Taschenmesser aus der Hose und stach mit einer gezielten Bewegung in die Wurzel – oder versuchte es zumindest. Noch bevor die Klinge die Wurzel berührte, knickte diese in einem großen Bogen zur Seite. Als ob sie spürte, dass jemand ihr Schmerzen zufügen wollte.

Er starrte das Messer in seiner Hand an und schüttelte mehrmals den Kopf. Tina schubste ihn zur Seite.

»Worauf warten wir? Wir müssen diese Dinger beseitigen, bevor sie Jess erwürgen!«

Sie schnappte sich das Messer und begann, wild auf die Wurzeln neben Jess einzustechen. Sie wichen Tinas Hieben aus, sobald sie auf sie zielte, und verfielen dabei in einen rhythmischen Tanz, dessen Anblick ich mich kaum entziehen konnte. Tinas Hand verkrampfte sich um den Griff, ihr Gesicht lief rot an. Je schneller sie zustach, desto wilder tanzten die Ranken miteinander. Tina hatte keine Chance. Doch sie schrie und stach mit Tränen in den Augen weiter auf die Wand ein. Je öfter sie zustach, desto stärker sprossen die Wurzeln. Sie bildeten immer mehr Auswüchse, bis diese die ganze Felswand tapezierten.

»Lass es, Tina!« Meine Stimme hallte durch den Gang. »Du bringst sie in Gefahr!«

Ich schlang meine Arme um ihre Taille und zog sie von Jess und der Wand weg. Sie fauchte und fuchtelte wild mit den Armen. Das Messer streifte meine Hand, scharfer Schmerz durchzuckte mich. Ich unterdrückte ein Wimmern und startete gleich einen neuen Versuch, ihr das Messer zu entwenden. Alex ging dazwischen und schaffte es mit einem geübten Griff, ihr die Waffe zu entziehen.

Völlig außer Atem ließ ich Tina los und starrte auf die blutende Wunde auf meinem Handrücken. Der brennende Schmerz spülte auch die Wut wieder in mein Bewusstsein, die sich wie Gift in meinem Herzen einnistete. Mein Blick wanderte weiter zu Jess. Als ob ein Damm in mir brach, stürzten alle Gefühle der vergangenen Tage gleichzeitig über mich herein, tobten in mir, zerrten an mir. So sehr es mich erleichterte, Jess endlich wiederzusehen, so wenig hatte ich meine Enttäuschung vergessen. In meinem Bauch glühte der Knoten auf, zu dem sich unsere Konflikte verstrickt hatten, und setzte meine Adern in Flammen. Sie hatte mein Vertrauen missbraucht. Mich angelogen und ignoriert, als ich sie am meisten gebraucht hatte.

Ich würde alles tun, um sie zu retten, aber wenn ich nicht durchdrehen wollte, brauchte ich die Gewissheit, dass sie auch danach weiter für mich da sein würde.

»Warum hast du es mir nicht einfach gesagt?« Zum ersten Mal gelang es mir, ihr direkt in die Augen zu blicken. Jess zitterte am ganzen Leib, was die Wurzeln noch unruhiger machte.

»Es tut mir doch leid«, krächzte sie. »Du weißt doch …« Ein Würgen erstickte ihre Stimme. Die Wurzeln rankten sich weiter bis zu ihrem Hals. Es ging viel zu schnell.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Mit dem Abschicken des Kommentars bin ich mit den Datenschutzrichtlinien des Blogs einverstanden.