Mit
vorsichtigen Schritten schlich Alex näher an Jess heran. Ich hielt den Atem an.
Nichts passierte. Er streckte die Hand nach einer Wurzel über ihrem
Schlüsselbein aus und strich darüber, als wollte er sie mit den Händen
inspizieren. Unmittelbar danach zog er mit der anderen Hand sein Taschenmesser
aus der Hose und stach mit einer gezielten Bewegung in die Wurzel – oder
versuchte es zumindest. Noch bevor die Klinge die Wurzel berührte, knickte
diese in einem großen Bogen zur Seite. Als ob sie spürte, dass jemand ihr
Schmerzen zufügen wollte.
Er
starrte das Messer in seiner Hand an und schüttelte mehrmals den Kopf. Tina
schubste ihn zur Seite.
»Worauf
warten wir? Wir müssen diese Dinger beseitigen, bevor sie Jess erwürgen!«
Sie
schnappte sich das Messer und begann, wild auf die Wurzeln neben Jess
einzustechen. Sie wichen Tinas Hieben aus, sobald sie auf sie zielte, und
verfielen dabei in einen rhythmischen Tanz, dessen Anblick ich mich kaum
entziehen konnte. Tinas Hand verkrampfte sich um den Griff, ihr Gesicht lief
rot an. Je schneller sie zustach, desto wilder tanzten die Ranken miteinander.
Tina hatte keine Chance. Doch sie schrie und stach mit Tränen in den Augen
weiter auf die Wand ein. Je öfter sie zustach, desto stärker sprossen die
Wurzeln. Sie bildeten immer mehr Auswüchse, bis diese die ganze Felswand
tapezierten.
»Lass
es, Tina!« Meine Stimme hallte durch den Gang. »Du bringst sie in Gefahr!«
Ich
schlang meine Arme um ihre Taille und zog sie von Jess und der Wand weg. Sie
fauchte und fuchtelte wild mit den Armen. Das Messer streifte meine Hand,
scharfer Schmerz durchzuckte mich. Ich unterdrückte ein Wimmern und startete
gleich einen neuen Versuch, ihr das Messer zu entwenden. Alex ging dazwischen
und schaffte es mit einem geübten Griff, ihr die Waffe zu entziehen.
Völlig
außer Atem ließ ich Tina los und starrte auf die blutende Wunde auf meinem
Handrücken. Der brennende Schmerz spülte auch die Wut wieder in mein
Bewusstsein, die sich wie Gift in meinem Herzen einnistete. Mein Blick wanderte
weiter zu Jess. Als ob ein Damm in mir brach, stürzten alle Gefühle der
vergangenen Tage gleichzeitig über mich herein, tobten in mir, zerrten an mir.
So sehr es mich erleichterte, Jess endlich wiederzusehen, so wenig hatte ich
meine Enttäuschung vergessen. In meinem Bauch glühte der Knoten auf, zu dem
sich unsere Konflikte verstrickt hatten, und setzte meine Adern in Flammen. Sie
hatte mein Vertrauen missbraucht. Mich angelogen und ignoriert, als ich sie am
meisten gebraucht hatte.
Ich
würde alles tun, um sie zu retten, aber wenn ich nicht durchdrehen wollte,
brauchte ich die Gewissheit, dass sie auch danach weiter für mich da sein
würde.
»Warum
hast du es mir nicht einfach gesagt?« Zum ersten Mal gelang es mir, ihr direkt
in die Augen zu blicken. Jess zitterte am ganzen Leib, was die Wurzeln noch
unruhiger machte.
»Es tut
mir doch leid«, krächzte sie. »Du weißt doch …« Ein Würgen erstickte ihre
Stimme. Die Wurzeln rankten sich weiter bis zu ihrem Hals. Es ging viel zu
schnell.
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