Samstag, 3. Oktober 2020

[Schnipseltime] Zum Teufel mit Kafka von Maria Zaffarana

 


Ich erinnere mich noch ganz genau an den Tag, an dem er plötzlich vor uns stand, einfach so – in Frauenklamotten und mit einer langhaarigen roten Perücke auf dem Kopf. Meine Eltern und ich saßen in der Küche und warteten mit dem Abendessen auf ihn.

„Wo bleibt denn der Junge schon wieder“, hatte mein Vater noch gefragt. „Immer kommt er zu spät.“

Als er dann endlich erschien, wäre meinem Vater beinahe das Gebiss herausgefallen. Meine Mutter schrie kurz schrill auf und fing augenblicklich an zu japsen. Ich muss zugeben, dass auch ich dämlich dreingeschaut haben muss. Ich konnte einfach nicht einordnen, was dieser Aufzug sollte. Eine Weile saßen wir stumm wie die Hühner auf der Stange da und starrten meinen Bruder an, der ebenso wortlos zurückstarrte. Mein Vater war der Erste, der nach einer kleinen, für mich unerträglichen Ewigkeit seine Sprache zurückfand.

„Haben wir schon Karneval oder was ist hier los?“, fragte er.

In seiner Stimme schwang Unsicherheit mit, die er nicht überspielen konnte.

„Nein!“, erwiderte Nils und strich sich eine rote Strähne aus seinem überschminkten Gesicht.

Irgendwie eigenartig kam er mir vor mit all der Schminke, den feuerroten Lippen, den rosa Wangen und diesem Kleid. Es stand ihm so gar nicht. Ich starrte ihn weiter an, mit offenem Mund. Speichel lief mir das Kinn entlang. Ich stieß irgendwelche Geräusche aus, die keinerlei Sinn ergaben.

„Nils!“, sagte meine Mutter, sichtlich irritiert. „Warum dieser alberne Aufzug? Bitte zieh dich um, wir wollen jetzt endlich wie vernünftige Leute essen.“

Hoffnung, aber auch eine kaum überhörbare Verzweiflung lagen in ihren Worten. Nils‘ Aufritt kam so unerwartet, so plötzlich und hatte dennoch etwas Endgültiges. Es ließ keinen Raum für Spekulationen. Als wir ihn so sahen, wussten wir augenblicklich, von jetzt auf gleich, dass das Ganze kein alberner Spaß war. In der Art und Weise, in der er dastand, zeigte er uns, dass es ihm verdammt ernst war. Mit einem Gesichtsausdruck, der schwer zu durchschauen war, setzte er sich zu uns an den Tisch. Wir beobachteten jede seiner Bewegungen, die sich auf einmal alle so fremd anfühlten. Er aber ließ sich nicht von unserer Starre irritieren. Nicht, weil es ihm gleichgültig war – er schaute uns sogar die ganze Zeit lang mehr oder weniger an. In aller Seelenruhe nahm er sich eine Scheibe Brot, legte sie auf seinen Teller und sah durch uns hindurch.

„Ich wünsche mir, dass ihr mich nicht mehr Nils nennt. Ich heiße Alicia.“

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